Hat die neoliberale Wende stattgefunden, und wenn ja, warum?

In einem kürzlich erschienenen Kommentar im Standard argumentiert Eric Frey, dass es die neoliberale Wende nie gab. Schließlich sei die Abgabenquote in den Industrieländern im Wesentlichen konstant geblieben, entgegen dem neoliberalen Ziel eines reduzierten Staates. Außerdem sei der unleugbare Anstieg der Ungleichheit in den Industrieländern aufgrund des ökonomischen Aufstiegs Chinas unvermeidbar gewesen, könne also nicht auf den Neoliberalismus zurückgeführt werden. In einer Replik auf dieser Seite widerspricht Andreas Novy dieser Einschätzung und argumentiert, dass die neoliberale Wende sehr wohl stattgefunden habe.

Ich teile Novys Ansicht. Die neoliberale Wende hat nicht nur auf der diskursiven Ebene stattgefunden, sondern ist auch in vielen „harten Zahlen und Fakten“ sichtbar. Es gibt natürlich Variationen zwischen den Industrieländern, aber die folgenden Entwicklungen treffen auf viele Länder zu:

  • Das staatliche Vermögen ist massiv zurückgegangen, bei einem gleichzeitigen Anstieg des Privatvermögens. Hauptgrund sind massive Privatisierungen, die effektiv einem Transfer von Vermögen an reiche Haushalte gleichkamen.

  • Die Steuerprogressivität ist zurückgegangen. Spitzensteuersätze sind gesunken, Vermögens- und Erbschaftssteuern wurden gesenkt oder abgeschafft. Das hat einerseits Nettoeinkommen zu reichen Haushalten umverteilt, andererseits wahrscheinlich auch den Anstieg der Ungleichheit an Bruttoeinkommen verstärkt.

  • Finanzmärkte wurden dereguliert, die Trennung verschiedener Geschäftsbereiche aufgehoben, effektive Eigenkapitalerfordernisse gesenkt, neue Produkte legalisiert, etc. Die Folge ist wieder ein Anstieg der Spitzeneinkommen im Finanzbereich, dem ein Anstieg ökonomischer Instabilität, Finanzkrisen und Bankenrettungspakete aus öffentlicher Hand gegenüberstehen.

  • Die sozialstaatliche Absicherung wurde in vielen Ländern zurückgebaut, im Namen von Slogans wie „Aktivierung“ oder „Eigenverantwortung,“ „welfare to work“ etc. De facto bedeutet das einen Anstieg ökonomischer Unsicherheit für Haushalte am unteren Ende der Einkommensskala, massive Eingriffe in private Entscheidungen durch Sachbearbeiter in Arbeitsämtern, den Zwang, Arbeit zu immer schlechteren Bedingungen anzunehmen, etc.

  • In Europa spielt die EU eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung des neoliberalen Programms. Das zeigt sich etwa in den sogenannten Grundfreiheiten (uneingeschränkter Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen), die Freihandel und Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten juristisch über nationale Gesetzgebung stellen.

Diese Liste ließe sich natürlich noch lange fortsetzen. Nun stellt sich die Frage: Warum hat die neoliberale Wende stattgefunden? Die übliche Erzählung dazu handelt von den ideologischen Vorläufern wie Friedrich Hayek und Milton Friedman, deren JüngerInnen es seit den 1980er Jahren schafften, immer mehr PolitikerInnen zu überzeugen bzw. selbst die Macht zu übernehmen.

Ich glaube, diese Erzählung ist zum Teil richtig, aber sie beantwortet nicht die Frage, warum dieser ideologische Wandel in den 1980ern stattfand. Mögliche tieferliegende Gründe sind die folgenden:

  • Die Ölkrisen und die Stagflation (Stagnation des Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Inflation der Preise) der 1970er ließen sich nicht mit den wirtschaftspolitischen Mitteln des Nachkriegskonsens bewältigen. Das hat zu einer Krise der alten Gewissheiten und dem Aufkommen neuer Dogmen geführt.
    Für diese Erklärung spricht, dass schon frühere Wirtschaftskrisen zu verbreiteten ideologischen Umschwüngen führten; so gilt etwa die Weltwirtschaftskrise der 1880er als Ende des klassischen ökonomischen Liberalismus, und die große Depression der 1930er führte zum New Deal und letztlich dem keynesianisch/planerischen Nachkriegskonsens.

  • Technischer Wandel und internationale Entwicklungen haben zu einem wirtschaftlichen Strukturwandel und insbesondere zu einem Bedeutungsverlust der klassischen Industrie geführt. Weil die klassische Industrie immer den Kern der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung darstellte, hat ihr Schrumpfen zu einem Verlust an Mitgliederzahlen und einer Schwächung der gewerkschaftlichen Verhandlungsposition geführt, sowohl in Lohnverhandlungen als auch in der Einflussnahme auf die Wirtschaftspolitik.

  • Der Anstieg ökonomischer Ungleichheit hat die Ungleichheit an politischem Einfluss verstärkt (via Lobbying, Wahlkampfspenden, etc.) und so zu einer Feedbackschleife von ökonomischer und politischer Ungleichheit geführt.

  • Die Strukturen der EU sind auf wirtschaftsliberale Grundsätze und die Aushebelung nationalstaatlich-politischer Souveränität in der Wirtschaftspolitik ausgelegt.

  • Aufgrund der Globalisierung (verstärkte internationale wirtschaftliche Verflechtung) sind Nationalstaaten verstärkt einem Standortwettbewerb ausgesetzt, der zu einer zunehmenden Aushöhlung von sozial- und umweltpolitischen Standards führt.

  • Mit dem Ende der Sowjetunion ist das Drohpotential kommunistischer Revolten weggefallen, und damit auch die Notwendigkeit aus propagandistischen Gründen soziale Mindeststandards aufrechtzuerhalten.

Welche dieser Faktoren wie sehr zum wirtschaftspolitischen Paradigmenwandel beigetragen haben, lässt sich natürlich schwer sagen. Und keiner dieser Faktoren ist Schicksal – wir haben immer die Möglichkeit einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik und einer gerechteren Welt, wenn wir uns dafür einsetzen!