Wie können die das mit ihrem Gewissen vereinbaren?

Die Nachrichten dieser Tage sind unter anderem geprägt von den Folgen europäischer Politik für die Menschen in Griechenland, von den im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen und von den menschenunwürdigen Zuständen, unter denen Flüchtlinge in Österreich leben müssen.

In all diesen Fällen gibt es Alternativen zu den getroffenen politischen Entscheidungen – Schuldenschnitte, erleichterter Zugang zu Asyl, Bereitstellung akzeptabler Unterkünfte, etc. In all diesen Fällen wissen die Handelnden, was die Folgen ihres Handelns sind – es genügt, eine Zeitung in die Hand zu nehmen, um sich darüber zu informieren. Und in all diesen Fällen sind die Alternativen mit vergleichsweise geringen ökonomischen Kosten verbunden – weder die griechischen Schulden noch die Zahl der Flüchtlinge sind sonderlich hoch relativ zur Wirtschaftsleistung und Bevölkerung Europas.

Das wirft die offensichtliche Frage auf: Wie können die handelnden PolitikerInnen und anderen EntscheidungsträgerInnen ihr Verhalten mit ihrem Gewissen vereinbaren? Wieso tun sie wissentlich und ohne Not Dinge, die offensichtlich schlimme Konsequenzen für Menschen haben, denen es ohnehin schon schlecht geht?

Ein paar Erklärungsversuche

Die Ursachen für ein solches politisches Handeln sind natürlich kompliziert, und nicht nur auf der Ebene von Denkmustern zu suchen. Dennoch ist es hilfreich, zu versuchen zu verstehen, woher die Handelnden kommen. Es geht mir hier nicht um rassistische Parteien am rechten Rand, sondern insbesondere um PolitikerInnen der sogenannten Mitte. Wie wird man zum „Schreibtischtäter,“ der/die wissentlich Menschen ertrinken lässt, ein Dach über dem Kopf verwehrt oder die Grundlage ihrer medizinischen Versorgung entzieht? Welche Denkmuster sind die Voraussetzung, dass solches Handeln als legitim gesehen wird?

Eine erstes Denkmuster bezieht sich auf das Einhalten von „Regeln“. Nach dieser Logik wurden Regeln einmal beschlossen und für gut befunden – etwa die budgetären Regeln der Eurozone oder die Regeln der internationalen Verteilung von Flüchtlingen. In der konkreten Situation müssen die Regeln dann angewandt werden – „wo kämen wir denn sonst hin“ und „da müssen sich alle dran halten“. Der Verweis auf Regeln (Gesetze, Weisungen von Vorgesetzten, etc.) ist auch die klassische Rechtfertigung von Verbrechen in Diktaturen – „ich habe mich immer an die Gesetze gehalten“.

Gelegentlich wird die Einhaltung von Regeln auch durch den Abschreckungseffekt gerechtfertigt – „wenn wir Griechenland die Schulden erlassen / Flüchtlingen das Leben retten, etc. werden andere noch mehr Schulden machen / noch mehr Flüchtlinge kommen ...“.

Ein zweites Denkmuster bezieht sich auf das Zuschreiben von „Verantwortung“. „Wir sind nicht Schuld an der Krise in Griechenland“ und „der Krieg in Syrien ist traurig, aber da können wir nichts dafür“. Nach dieser Logik ist jemand anderer Schuld an den schlimmen Dingen die passieren; die Tatsache, dass man selbst etwas daran ändern könnte (Schuldenerlass, Möglichkeit zur legalen Flucht,...), wird dadurch irrelevant.

Ein drittes, verwandtes, Denkmuster schreibt implizit verschiedenen Menschen(leben) einen verschieden großen Wert zu. „Wir müssen uns zuerst um unsere Leute kümmern“ oder „Staaten sind zuerst ihren Staatsbürgern verpflichtet“. Dementsprechend wird letztlich dem Wohlergehen von Menschen nur dann Bedeutung zugemessen, wenn sie die richtige Staatsbürgerschaft (und/oder auch Religion / Hautfarbe / ...) haben. Dass PolitikerInnen sich nur für ihre eigenen StaatsbürgerInnen verantwortlich sehen, hat dann letztlich die selben Folgen wie expliziter Rassismus.

Ein viertes Denkmuster basiert auf wahlpolitischem Kalkül. Nach dieser Logik gibt es verschiedene politische (und moralisch gerechtfertigte) Ziele, deren Erreichung politische Macht erfordert. Um diese Macht zu erhalten, muss man gewählt werden. Und auch wenn man selber gerne anders mit Griechenland und Flüchtlingen umgehen würde, erfordert der Erhalt der Macht ein hartes Auftreten – um keine WählerInnenstimmen zu verlieren.

Was tun?

Wie kann man solchen Denkmustern entgegentreten, wie öffentlich argumentieren? Ich glaube man muss diesen Argumenten grundsätzlich widersprechen, um gegen ihre menschenverachtenden Folgerungen zu kämpfen.

Das bedeutet erstens, darauf zu bestehen über die Konsequenzen politischer Entscheidungen und möglicher Alternativen zu reden, statt nur darüber ob sie den „Regeln“ entsprechen. Welche Folgen hat es für die Menschen in Griechenland, wenn radikale neoliberale Programme erzwungen werden? Welche Folgen hat es für Flüchtlinge, wenn legale Einreise aus Kriegsgebieten unmöglich gemacht wird? Welche Folgen hat es für AsylwerberInnen, wenn politische Kompetenzstreitigkeiten in Massenobdachlosigkeit münden?

Das bedeutet zweitens, das Abschieben von Verantwortung nicht hinzunehmen. Wenn Entscheidungen europäischer Regierungen Folgen für Menschen woanders haben, sind die EntscheidungsträgerInnen für diese Folgen verantwortlich – egal, welche Staatsbürgerschaft, Religion oder Hautfarbe die Betroffenen haben.

Das bedeutet drittens, offensiv die Gleichwertigkeit aller Menschen einzufordern. Menschenleben zählen, egal woher die Betroffenen kommen, und genauso zählt ihre Gesundheit, ihr Dach über dem Kopf, und so weiter. Dazu würden wahrscheinlich viele PolitikerInnen der „Mitte“ Lippenbekenntnisse abgeben; wenn sie nicht danach handeln, muss das offensichtlich gemacht werden.

Und das bedeutet viertens, die Rechtfertigung menschenverachtendender Politik aus wahlpolitischen Überlegungen nicht zu akzeptieren. Wenn politische Positionen das Mittel werden, Wahlen zu gewinnen, statt dass umgekehrt politische Macht ein Mittel ist, gerechtfertigte Ziele umzusetzen, dann muss über das Verhältnis von Mitteln und Zwecken diskutiert werden.

Einzufordern, dass internationale Solidarität geübt wird, ob mit den Menschen in Griechenland, Kriegsflüchtlingen, oder anderen, mag manchen radikal und utopisch scheinen.

Ich glaube aber, dass mit entsprechenden Argumenten auch an das moralische Empfinden einer Mehrheit Anschluss gefunden werden kann. Wenn über Folgen politischer Entscheidungen, Verantwortung, und den Wert von Menschenleben entsprechend gesprochen wird, sind Mehrheiten gegen eine menschenverachtende Politik möglich.